wenn es einen an allen Haaren wohin zieht

18. Oktober 2022

Ich hatte ein solches Bedürfnis, ins Flüeli Ranft zu fahren, dass ich das Gefühl hatte, es gäbe kein Ziel, keine Destination, die besser passen könnte. An einem so wunderschönen Tag muss man doch raus. Ich wusste nicht, ob ich es schaffen würde, die Fahrt und zusätzlich den Weg zur Kapelle runter und wieder rauf zu bewältigen. Ich wusste aber, dass ich unbedingt dorthin wollte, um meinem wunden Ich wieder Mut und Kraft zu geben. Die Fahrt verlief so wunderbar harmonisch und sogar ein Gratisparkplatz wurde geboten. Die Luft so mild, die Sonne so freundlich hell und warm, die Farben wunderschön und die Stimmung: Frieden auf Erden!

Ganz langsam und sorgfältig mit meinem verstauchten Fuss und einem Stock, an der anderen Hand Leo an der Leine, führte uns der Weg in der Stille zur Kapelle von Bruder Klaus. Auf halbem Weg zündeten wir eine Kerze an. Die Stimmung im Flüeli Ranft ist wirklich so, als würde man in eine andere Welt gehoben, sachte, liebevoll, achtsam. In der Kapelle setzen wir uns vor Bruder Klaus. Ich bin nicht kirchengläubig, also muss ich kein „Vater unser“ beten, aber Dankbarkeit aus tiefem Herzen ausdrücken, das ist mein Wunsch und Wille gewesen. Ich war so dankbar, dass ich den Weg hierhin geschafft habe. Ein Zeichen davon, dass wieder etwas mehr Kraft in meinen Körper fliesst.

Der Weg wieder nach oben war einfacher, obwohl die Sonne uns sehr warm machte, aber das Tempo war so gemächlich, dass ich kaum merkte, wie steil der Anstieg war. Im Gästehaus von Paxmontana assen wir auf der gemütlichen Terrasse eine feine Rösti mit Alpkäse und ich hatte das Gefühl, perfekter könnte ein Tag nicht sein…

…als ich mich nach dem Essen vom Stuhl erhob, merkte ich, wie mein linkes Bein nass wurde, wie meine Jeans sich sofort vollsaugten mit dem, was meine Stomaplatte wiedermal nicht halten konnte und auch wenn ich einen ganzen Stapel Papierhandtücher aus dem WC in meine Hose stopfte, war die Heimfahrt angespannt, weil ich alle 2,3 Minuten spürte, wie mein Stoma einen Schwall Verdautes hervorbrachte und meine Kleidung immer nasser wurde…

Leider macht die Chemotherapie aktuell den Stuhl so aggressiv ätzend, dass sich die Stomaplatte wie Kaugummi auflöst und sich die ätzende Flüssigkeit einen Weg unter der Platte hindurch sucht und findet und wenn diese Platte leckt, ja, dann kann ich nichts mehr machen, ausser sofort nach Hause zu fahren, Kleider zu wechseln, Stoma zu reinigen und eine neue Platte anzukleben, in der Hoffnung, sie halte für ein paar Stunden. Das ist echt schlimm für mich, weil die Unsicherheit wächst, weil man sich kaum nach draussen traut und die Nächte schwierig sind, weil die Angst, das Bett zu versauen zu gross ist.

Es war ein bewegter Tag mit vielen Emotionen, es war der 7. Portaltag in Folge und das Thema diese Tages war: tiefes uraltes Wissen in unseren Zellen, in unseren Blutbahnen, in unserem Wasser ruft in uns nach Gehör. Wer bin ich? Was bin ich?

Bin ich wirklich nutzlos und wertlos, wenn ich nichts tun kann, wenn ich Hilfe brauche, wenn ich nicht „gschaffig“ bin? Ist das mein altes Muster, welches immer mal wieder ruft: Du bist nur liebenswert, wenn du Leistung erbringst… Nein, das bin ich definitiv nicht (mehr), aber wer oder was bin ich dann?

Hast du dir diese Fragen auch schon gestellt?

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